Werkzeugkasten für Transformation: Erfahrungen aus einem Projekt
Zwischen 2017 und 2021 habe ich einen großen Veränderungsprozess geleitet und gestaltet. Die Herausforderung: Wir haben eine neue Heimat für eine regionale, öffentlich-rechtliche Medienmarke geschaffen, neuer, umgebauter Newsrooms, inklusive neuer Workflows, und mit rund 350 Beteiligten Kolleg*innen. Wir haben unsere Informations- und Nachrichtenredaktionen von zwei Standorten und aus drei Gebäuden zusammengebracht, um künftig themenzentriert, crossmedial zu arbeiten. Unser Ziel: Mit Nachrichten und Hintergründen trotz absehbar sinkender linearer Verbreitung auch künftig die Menschen zu erreichen – in der Sprache, mit den Produkten, auf den Kanälen, die sie nutzen.
Wir haben den Prozess gestartet – und wollen ihn im Idealfall nie beenden. Dennoch lässt sich heute rückblickend manches lernen: Wir haben gute Fehler gemacht und auch manches gleich richtig. Viele Kolleg*innen haben an diesem Prozess mitgearbeitet, viele standen mit Rat und Tat zur Seite – von außen wie innerhalb des Unternehmens.
Welche Tools, Ideen und Kniffe – und welche Haltung haben uns auf diesem Weg geholfen? Manches Detail ist sicher spezifisch für diesen Veränderungsprozess. Andere lassen sich gut auf andere Unternehmen oder sogar Branchen übertragen. In den folgenden Absätzen habe ich die wichtigsten zusammengefasst.
(Die einzelnen Beiträge lassen sich ausklappen.)
Kontakt, Kennenlernen, Können
Diese 3K sind so etwas wie das Rückgrat unseres Prozesses. Wir haben Kolleg*innen in Jobrotationen in bisher unbekannte Bereiche geschickt, die künftig in einer neuen Struktur zusammenarbeiten sollen. Dort haben wir die Kolleg*innen bis zu sechs Wochen lang eingesetzt – keine Stippvisite, sondern als vollwertige Teammitglieder. Dazu haben wir Teams aus jeweils drei Kolleg*innen zusammengespannt – einer vom Hörfunk, einer von Online, einer vom Fernsehen (Kontakt). In der ersten Wochen haben sich diese Teams gegenseitig Abläufe, Konferenzen, Funktionen und Tools erklärt (Kennenlernen). Anschließend haben sie Funktionen übernommen, unterstützt von den Teams vor Ort (Können). Die wichtigste Erkenntnis: Wir haben viel gemeinsam, unser Berufsverständnis als aktuelle Journalisten ist ähnlich – egal, für welches Medium wir arbeiten. Nach und nach haben wir Dutzende Kollegen rotieren lassen. Sie sind nach und nach zu Botschaftern des Prozesses geworden. Wir haben diese Rotation mit Personalabteilung und -räten gemeinsam entworfen und in regelmäßigem Feedback verbessert.
Nutzerperspektive
Dies mag eine Binse sein – aber wir haben zu jedem Prozessschritt immer wieder daran erinnert, warum wir unser crossmediales Nachrichtenhaus bauen. Nicht wegen der Veränderung an sich. Nicht, weil gerade ein Gebäude frei war, das wir belegen können. Nicht, weil neue Workflows etwa modern oder zeitgemäß sind. Sondern weil es um unser Publikum geht. Die Menschen im Norden werden wir nur dann mit unseren Nachrichten erreichen, wenn wir sie in der Sprache und Form produzieren, die Nutzer*innen sich wünschen. Und wir müssen die Kanäle nutzen, auf denen auch die Menschen im Norden unterwegs sind. Immer wieder haben wir Entscheidungen an dieser Frage gemessen. Und immer wieder haben wir diese Perspektive vergessen – und sind eben doch zu sehr dem gefolgt, was aus einen Binnensicht heraus möglicherweise die Arbeit vereinfacht oder modern erscheint.
Widerstand
Was macht man mit denen, die man nicht erreicht in einem Veränderungsprojekt? Diese Frage haben wir uns immer wieder gestellt – vermutlich, wie in jedem Projekt. Die Antwort ist kompliziert. Zum einen gab es glücklicherweise wenig Zweifel an unseren grundsätzlichen Zielen. Unser „Purpose“, unser Narrativ war klar – und kaum jemand hat Zweifel daran, dass wir in der linearen Produktion Freiräume für Journalismus auf digitalen Kanälen schaffen müssen. Im Detail gab es aber durchaus Widerstand, Kritik, Zweifel – natürlich! Zum einen haben wir uns bemüht, für diese Themen Foren und Kanäle zu schaffen, um Kolleg*innen die Chance zu geben, auch kritische Töne klingen zu lassen. Zum anderen haben wir diese Themen auf Augenhöhe ernst geNommen, ohne für jedes eine Lösung zu kennen oder anzubieten. Wichtig ist aus meiner Sicht die aufrichtige, ehrliche Kommunikation auf Augenhöhe. Und die Erkenntnis, dass es manchmal Widerstand braucht, um Workflows, Konzepte, Strukturen zu schärfen.
Ernsthafte Beteiligung
Wir haben unseren Prozess mit einem großen, zweitägigen Workshop gestartet. Mit rund 100 Teilnehmer*innen waren fast alle Kolleg*innen aus den beteiligten Bereichen dabei, die nicht in Nachrichtendiensten beschäftigt oder im Urlaub waren. Vom Kameramann über den freien Reporter bis zur Redaktionsassistentin.
Das Ziel war, mit „Nextpractice“ Anforderungen und Wünsche an unseren Prozess zu sammeln. Dafür haben wir das großartige, computergestützte Tool „nextmoderator“ eingesetzt: Kolleg*innen sitzen in möglichst gemischten Dreiergruppen vor dem Computer, diskutieren Fragestellungen miteinander und arbeiten an Lösungen. Ihre Ergebnisse tragen sie in das System ein und bewerten gleichzeitig die Ergebnisse, die andere Teams veröffentlichen. Auf diese Weise dominiert in der Debatte nicht der Kollege, der im Gespräch immer als erster aufsteht und den Ton setzt: Wer ungern vor vielen Menschen spricht, hat dieselbe Chance, gehört zu werden. Es zählt die gemeinsame, demokratisierte Gewichtung und Bewertung von Themen.
Viele Kolleg*innen haben nach dem Workshop gespiegelt, wie wertschätzend sie die Atmosphäre empfunden haben. Wir haben viele Impulse gesammelt, die wir immer wieder, in Workshops und Inforunden nachgehalten haben. Und wir haben zu Beginn ein Ausrufezeichen gesetzt: Wir meinen es ernst mit Beteiligung auf Augenhöhe. Leider ist es uns nicht gelungen, dass in jedem Thema durchzuhalten: Die neue Hierarchiestruktur hat die Führungsebene eher im Selbstgespräch entwickelt und später zur Diskussion gestellt. Hier haben wir vielleicht mehr versprochen, als wir gehalten haben.
Vertrauensleute
Ein anspruchsvoller Veränderungsprozess braucht Kommunikationskanäle. Neben unserer Prozessstruktur haben wir daher einen weiteren Kanal geöffnet. Die beteiligten Bereiche haben Vertrauensleute gewählt, aus ihrer Mitte, demokratisch. Mit vier Kolleg*innen habe ich mich alle vier bis sechs Wochen regelmäßig getroffen. Wir haben telefoniert und offen und vertrauensvoll miteinander gesprochen. Ich habe Prozessschritte erklärt, Anregungen mitgenommen. Auf Augenhöhe – die vier Vertrauensleute waren ein wichtiger Seismograph für Schwingungen im Projekt. Und wir neben der Hierarchie einen weiteren Kommunikationskanal, der uns sehr geholfen hat.
Wir für das Projekt (mit Hut)
In der Projektstruktur haben wir neben dem kleinen Team der Projektleitung ein wichtiges Kraftzentrum etabliert – eine Koordinierungsgruppe. Drei Redaktionsleiter*innen aus den beteiligten Bereichen waren dafür halb von ihren Alltagsjobs freigestellt. Einmal wöchentlich haben wir die wichtigen anstehenden Themen besprochen, diskutiert und viele Probleme gelöst. Zu Beginn haben wir uns als Team eine Basis erarbeitet, im Verlauf haben wir regelmäßig unsere Zusammenarbeit, unsere Erfolge und Potentiale reflektiert. Dadurch haben wir es immer wieder geschafft, uns „den richtigen Hut“ aufzusetzen – den Projekthut. Wir haben intern gestritten, manchmal auch die Interessen des eigenen Bereichs vertreten – nach außen sind wir aber für das gemeinsame Ziel, für das Projekt in die Bütt gegangen. Wir haben uns immer Zeit dafür genommen, diesen Spirit zu entfachen und uns als Team zu finden. Das war sehr wertvoll – ein echtes „Team“ mit gleichen Werten, Zielen und demselben (Grund-)Verständnis nach außen. Viel gesprochen haben wir auch über unseren Horizont, darüber, wie weit wir springen wollen: Wie gehen wir mit systemischen Rückwirkungen auf das bestehende System um? Sind wir bereit, auch neue Spielregeln zu etablieren? Ja, wenn es zur Erreichung unserer Projektziele erforderlich war. Und wir haben den Prozess gemeinsam nicht als logistischen oder organisatorischen, sondern als sozialen Prozess in unserem Unternehmen gesteuert. Wir haben unsere Impulse nicht ‚neben‘ der bestehenden Struktur entwickelt, sondern das System selbst aktiviert und versucht, Brücken zum Neuen zu bauen.
Leitplanken
Wichtig war ein Rahmen für unser Projekt, auf den wir uns immer wieder berufen konnten. Dieser Rahmen hat das Ziel deutlich herausgearbeitet: wie weit wir springen müssen. Er hat uns den Auftrag gegeben, neue crossmediale Einheiten und Workflows zu schaffen – und es uns nicht anheim gestellt. Er hat deutlich gemacht, dass wir Freiräume schaffen müssen, um vor allem auf digitalen Ausspielkanälen unser Publikum zu erreichen. Von vornherein war klar, welche Einheiten Teil unseres Prozesses sein würde und wer nicht. Das hat in vielen Debatten geholfen: „Nein, die Frage ist nicht, ob wir neue Workflows wir schaffen, sondern wie diese aussehen.“ Vorbereitet haben wir diese Leitplanken intensiv – mit Kolleg*innen aus allen beteiligten Bereichen. Wir haben dazu etwa ein halbes Jahr gebraucht – Time well spent. Denn nur dieser zunächst ausgehandelte, später vorgegebene Rahmen hat uns in unserer Arbeit frei gemacht, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. Die Leitplanken haben uns auf dem Weg gehalten und der Veränderung eine verbindliche Richtung gegeben, was gerade bei solchen komplexen Vorhaben und viel Handlungsspielraum zur Orientierung und Vergewisserung notwendig ist. Festgeschrieben hat diesen Rahmen schließlich eine Entscheidung der Geschäftsleitung – auch das war wichtig. Denn dies hat uns den Rückhalt der Entscheider-Ebene gegeben. Für manche Herausforderung haben wir diese Unterstützung gebraucht, und sie war auch ein wichtiges Signal: Wir alle halten diese Leitplanken für realistisch und richtig. (Bild: Pexels/Heorhii Heorhiichuk)
Aufrütteln und vergewissern auf Augenhöhe
Wir haben die Arbeit an redaktionellen Workflows, technischen Anforderungen und Raumgestaltung in drei Arbeitsgruppen organisiert. Die Besetzung dieser Arbeitsgruppen folgte einer dreifachen Logik: Zum einen haben wir Teamleiter*innen eingebunden – diejenigen die heute Redaktionen oder Bereiche führen. Zum anderen haben wir aber auch freie Mitarbeiter*innen und Redakteur*innen beteiligt, die nicht leiten, aber ihre Bereiche doch prägen, weil sie für die crossmedialen Ziele des Prozesses stehen. Und wir haben Kolleg*innen beteiligt, die in angrenzenden Bereichen oder anderswo im Unternehmen arbeiten, aber mit guten Ideen, Impulsen und kooperativem Talent schon heute das Unternehmen voranbringen.
In dieser Mischung haben die Arbeitsgruppen (mit rund einem Dutzend Mitgliedern) auf der einen Seite neue Ideen und Ansätze entwickelt, sie aber auch an der Realität gemessen. Zudem haben alle Mitglieder der Arbeitsgruppen ihren Kolleg*innen regelmäßig von der Projektarbeit erzählt. Auf diese Weise haben wir weitere Botschafter für den Prozess gewonnen. Und: Wir haben die neuen Arbeitsweisen nicht vor allem durch die Hierarchie entwickeln lassen, sondern durch die Kolleg/innen, die heute und auch später operativ unsere Newsrooms am Laufen halten.
Impulse und Resonanz
Regelmäßig haben wir die Projektarbeit der Arbeitsgruppen in größeren Workshops gespiegelt. Wir haben mit 30 oder mehr Kolleg*innen Anforderungen an die künftige Technik ebenso gesammelt wie Wünsche an unsere künftigen Räume. Wir haben Konzepte erklärt und diskutiert, angepasst und verworfen. Kolleg*innen konnten sich zu diesen Workshops nach Interesse anmelden. Wir haben Dienstpläne umgeworfen und versucht, möglichst vielen die Teilnahme zu ermöglichen. Das Ergebnis war ein fortwährender Dialog zwischen kleineren Arbeitsgruppen und größeren Workshops – ein Sich-Vergewissern, Neue-Ideen-Sammeln und Erklären. Und ein „Weitersagen“ – jede*n Teilnehmer*in haben wir auch gebeten, anderen von den Workshops zu berichten.
Erlebnisse
Wir haben versucht, die anstehende Veränderung erfahrbar zu machen. Damit Kolleg*innen nicht nur theoretisch hören, wie ihre Zukunft aussehen könnte, sondern es auch spüren. Wir haben dazu eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen, die wir „Studio [N]“ (für „News“) genannt haben: einstündige Impulse zum Feierabend zu spannenden Zukunftsthemen – von Podcast-Produktion über Audience Development bis zu Messenger-Diensten. Wir haben dabei immer einen Impulsgeber von außerhalb um seine Sicht gebeten. Aber wir haben auch Kolleg*innen aus dem eigenen Team auf die Bühne gestellt, die in dem jeweiligen Bereich erste Erfahrungen gesammelt haben. Ein Nebeneinander aus „Weit Denken“ und „Wir können auch selbst schon“, kopföffnend und wertschätzend. Wir haben zudem für Begegnung und Vernetzung gesorgt: beim Bier im Anschluss. Und beim großen „Open Space“, bei dem wir gemeinsam mit Student*innen der Universität, Start-Uppern aus dem Next Media Accelerator und vielen Kolleg*innen – von der Fahrbereitschaft bis zur Redaktionsassistenz – gemeinsan über neue Informationsformate nachgedacht haben. Das Ergebnis war nicht nur eine große Sammlung and Impulsen und Produkten für Produktentwicklung, sondern vor allem ein Spirit, der Veränderung erleichtert. Erlebnisse machen mutig, geben Inspiration und wecken die Lust, mitzumachen. Sie helfen beim Kennenlernen, und dabei, Hürden abzubauen und mit Pionieren einiges auszuprobieren. (Bild: Luis Quintero)
Leuchttürme auf dem Weg
Weil unser Veränderungsprozess so lang war, haben wir versucht, schon auf dem Weg Projekte zu starten, die uns stolz machen. Wir haben die gemeinsame Informationsmarke mehr als ein Jahr vor dem Einzug ins umgebaute Gebäude gestartet: Die Fernsehnachrichten bekamen einen neuen Namen, im Radio gab´s neue Jingle-Klänge und die Website bekam ein neues Logo. Und die Nachrichten bekamen eine App und gemeinsame Social Media Kanäle. Dafür haben wir ein gemeinsames Social Media Team geschaffen: Kolleg*innen, die bisher an zwei Standorten in drei Gebäuden für unterschiedliche Social Media Kanäle arbeiteten, sind seitdem unser erstes gemeinsames Team. Weil sie jeweils auch in Schichten in den „klassischen“ linearen Redaktionen arbeiten, sind sie Botschafter des Gemeinsamen. Und wir freuen uns über erste Reichweitenerfolge. Auch ein crossmedialer Technologie-Podcast ist entstanden, eine Produktion im neuen Spirit: Eine Kollegin, die vormals vor allem beim Hörfunk arbeitete, hat sich mit einer Fernsehautorin zusammengetan. Die beiden präsentieren einen erfolgreichen Podcast für eine wichtige Zielgruppe – vor allem junge Frauen, generell aber junge Nutzer*innen.
Gemeinsame Identität
Wir haben versucht, schon vor dem Einzug in die neuen, crossmedialen Newsrooms eine gemeinsame Identität zu schaffen – ein Shift im „Wer sind Wir“, weg vom eigenen, kleinen Bereich, hin zum neuen, gemeinsamen Team. Dafür haben wir uns über Standorte und Redaktionsgrenzen hinweg unserer Gemeinsamkeiten versichert – nach außen über die Einführung der gemeinsamen Nachrichtenmarke, für die wie alle arbeiten. Aber auch nach innen: Zum Start des Prozesses haben wir alle Beteiligten abstimmen lassen, welchen Namen wir uns als Team geben – ein Name, der Gemeinsamkeit schafft, dem Prozess einen etwas griffigeren Namen als „Prozess Crossmediales Nachrichtenhaus“ gibt, und vor allem: der aus unserer Mitte, von uns allen stammt. Dieser Name stand für Augenhöhe, für Miteinander, und für Aufbruch. Wir haben versäumt, dieses Selbstverständnis auch zu formulieren, festzuschreiben. Es liest sich eher zwischen den Zeilen aus unseren Dokumenten, Informationsrunden und Gesprächen. Beim nächsten Mal würde ich ein solches „Mission Statement“ für den Prozess transparent machen und festschreiben.
Das Prinzip der Gummimuffe
Diese Metapher habe ich von einem Kollegen entwendet (danke, Sascha Molina). Die „Gummimuffe“ ist das Verbindungsglied zwischen einem rotierenden Element und seinem Drumherum, konkret beispielsweise: zwischen unserem Projekt und dem Gesamt-Unternehmen. Ein Unternehmen und eine einzelne Einheit können sich im Veränderungstempo und in ihrer Rotationsgeschwindigkeit unterscheiden, so lange die Gummimuffen ausreichend flexibel sind. Wir waren einer der ersten crossmedialen Prozesse im Unternehmen, insofern mussten wir viele Gummimuffen zu unserem Umfeld entwerfen. Manche Muffe wird die zum Teil großen Unterschiede auf beiden Seiten nicht auf ewig kompensieren können. Die Muffe wird brechen, wenn nicht auch unternehmensweit ein Kulturwandel in Gang kommt. Oder Teilprojekte müssen ihr Tempo wieder herunterschrauben, Ziele anpassen. Die Gummimuffe hilft nur auf Zeit und nur, wenn Unterschiede nicht zu groß sind.
Ausprobieren statt Ausdiskutieren
Wir haben uns früh entschieden, dass Workflows sich nur bedingt auf dem Papier entwickeln lassen. Wenn wir uns an kniffeligen Stellen in Diskussionen festgefahren hatten, haben wir entschieden, erst einmal das anzunehmen, was uns als bestmögliche Lösung scheint – trotz damit verbundener Probleme oder Nachteile. Wir haben nie gesagt: „Jetzt sind wir fertig“ mit diesem Workflow oder jedem Prozessschritt. Wir haben immer signalisiert: „Wir probieren es aus, wir entwickeln es weiter und verbessern es.“ Zum Ausprobieren haben wir zusammen mit unserem Trainer Johannes Reichert ein tolles Tool entwickelt und verfeinert: die Simulation. Wir haben parallel zum Regelbetrieb Pop-Up-Newsrooms aufgebaut und Workflows ausprobiert, über zwei oder drei Tage. In mehreren Spielrunden haben wir dabei die erdachten Workflows dem Praxistext unterzogen. Und wir haben schnell gemerkt, was nicht funktioniert, und sofort nachgebessert. Das Ergebnis war in jedem Fall ein gemeinsames Erlebnis – mit der Gewissheit, dass wir nachzubessern bereit sind. Dass die Prozesslogik von „Wir probieren es erst einmal so, und wenn es nicht geht, verändern wir es“ ernst gemeint war. Und dass wir unsere Newsrooms auf Augenhöhe verändern. „Agilität“ ist ein Buzzword, an agiler Arbeitsweise aber haben wir uns versucht: ausprobieren, Feedback erhalten, nachsteuern, nach dem Motto „Fail often, fail early, fail cheap!“ Wenn’s gut läuft, haben wir damit den Grundstein für eine neue Entwicklungskultur gelegt.
Erst Anforderungen, dann Umsetzung
Wir haben in unserer Arbeit versucht, Anforderungen von der Umsetzung zu trennen. Das mag ein Binse sein – für unsere Arbeitsgruppen war das jedoch entscheidend. Wann immer wir uns in der Debatte an der Lösung eines Problems fest gefressen haben, sind wir einen Schritt zurückgegangen: Wir haben Nutzer*innenstories beschrieben – „Was braucht ein Journalist, damit er einen Fernsehbeitrag produzieren kann?“ – aber nicht das System selbst entworfen. Wir haben definiert, wer in großer Nähe zu wem arbeiten muss – aber die Verteilung im Gebäude den Fachleuten überlassen. Ihre Ergebnisse haben wir dann wieder reflektiert. Auf diese Weise haben wir zum einen verhindert, dass die „Machbarkeitsprobe“ zu früh die guten Ideen blockiert. Diese Feedbackschleifen haben für alle Beteiligten Komplexität reduziert. Wir haben aber auch erreicht, dass das gegenseitige Verständnis für Anforderung und Umsetzung steigt. Journalisten müssen keine Experten für Content Management Systeme sein – zumindest nicht alle. Ebensowenig sind Programmierer vertraut mit journalistischem Handwerk.
Neue Prozesse
Wir haben versucht, bereits Prozesse so anzulegen, dass wir auch künftig von ihnen profitieren. Mit Volontär*innen haben wir die Entwicklung von zwei Informationsformaten gestartet. Vom Prototyp über Pilotfolgen haben wir uns in mehreren Schritten an ein marktfähiges Produkt herangerobbt. Wir haben erste Ergebnisse erprobt und mit der Rückmeldung von Nutzer*innen aus der Zielgruppe weiterentwickelt. Dazu haben wir mit unserer Medienforschung mehrere Anbieter von Nutzer*innenpanels ausprobiert, um Feedback direkt in die Produktentwicklung einfließen lassen zu können. Wir haben Workshop-Teilnehmer*innen zur Hausaufgabe gegeben, mit Nutzer*innen über Nachrichtennutzung zu sprechen. Die Ergebnisse waren oftmals das Highlight eines Tages, weil viele überrascht davon waren, wie wenig wir doch von unseren Nutzer*innen wissen.
Zu viel Zeit
Unser Veränderungsprozess war lang. Das lag vor allem daran, dass wir ein bestehendes Gebäude umbauen und wieder beziehen sollten. Dieses Gebäude musste der „Vormieter“ jedoch erst freimachen. Und dieser Termin hing wiederum von einem Neubauprojekt ab, das unser Vormieter betrieb. Und dann kam auch noch Corona! – Ich kann niemanden empfehlen, seinen Veränderungsprozess zeitlich an Bauprojekte zu koppelt – ich mutmaße aber, dass die Realität vielen keine Wahl lassen wird. Wir haben es nicht immer geschafft, den Spirit hochzuhalten. Manche haben die anstehende Veränderung aus den Augen verloren, andere hat plötzlich überrascht, wie bald es nun doch losgehen würde. Wir haben immer wieder versucht, unsere Prozesse anzupassen, um neue oder veränderte Impulse zu geben, beispielsweise, wenn die Veränderungsspannung nachließ. Um in der Kommunikation glaubwürdig zu bleiben, haben wir nie absolute Termine kommuniziert, sondern immer nur Ziel-Korridore. Und wir haben diese dann verfeinert, wenn der Baufortschritt es zugelassen hat. Auf diese Weise sind wir glaubwürdig geblieben – verlässliche grobe Antworten sind besser als genaue, die ständig korrigiert werden müssen.
Play & Pause
Wenn ein Projekt lange läuft, sind aktiv gesetzte Pausen wichtig. Pausen, in denen ein Projektteil nicht beitragen kann, weil beispielsweise andere Prozesse Voraussetzung für die Weiterarbeit sind, oder, ganz praktisch, Pausen, weil das Haus noch nicht fertig umgebaut wurde, in das eine veränderte Redaktion einziehen möchte. Pausen sind dann eine sinnvolle Variante, sich für eine bestimmte Zeitspanne mental anderem zuzuwenden, ohne im Hinterkopf das Gefühl zu haben: „Eigentlich müsste ich doch dauerhaft den Prozess gestalten.“ Meetings und Prozesse blind im Takt fortzusetzen, blockiert kostbare Zeit und zieht Energie ab. Die Corona-Pandemie war das beste Beispiel: Sie hat nicht nur den Bau verlangsamt. Wir haben auch ganz bewusst locker gelassen, eine Pause gegeben, weil Redaktionen unter Hochdruck berichten mussten.
Kalkulierter Information Overflow
Wer im Unternehmen nicht bei drei auf den Bäumen war, hat von uns gehört. Es war schwer, an uns vorbeizukommen. Wir haben aus allen Rohren geschossen und über unseren Prozess informiert. In einem Intranet-Blog habe ich regelmäßig über den Projektstand geschrieben und möglichst viel auch über Kolleg*innen, die den Prozess gestalten. Möglichst viele Menschen sollten sich wiederfinden und wiedergefunden werden. Dazu haben wir in einem offenen Intranet-Bereich alle Informationen gesammelt – die Videos von live gestreamten Informationsrunden zum Prozess zum Beispiel, die zum Teil viermal im Jahr stattfanden. Wir haben mit Grafikabteilung und Produktion einen Film produziert, der erklärt, warum wir uns verändern. Wir haben Newsletter verschickt und zum wöchentlichen „Check-In“ geladen, in dem wir über Themen vom Honorarsystem über die Disposition bis zu Innovation und Workflows informiert haben. Aus meiner Sicht gibt es kaum ein „Zuviel“ an Information, denn wir haben in vielen Workshops und Gesprächen immer wieder gemerkt, dass lange nicht alles an alle durchdringt, eben ein kalkulierter „Information Overflow“.